Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung

Dt. Ärztebl. 90, Heft 12, 26.März 1993(85) A-905

Holger Goetzendorff: Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung

J. F. Volrad Deneke, Bonn

Der beachtliche Umfang des Werkes erklärt sich schon bei erster Durchsicht mit der wissenschaftlichen Akribie der Behandlung dieses Themas. Damit liegt ein sehr bedeutsamer Beitrag zur Nachkriegsgeschichte sowohl des Apothekenwesens als auch der Selbstverwaltung in den Heilberufen vor. Die Exaktheit, mit der der Verfasser vorgeht, führt den Leser schnell zu interessierter Vertiefung in die Lektüre der knapp 200 Seiten umfassenden Darstellung, während rund 300 Seiten Dokumentation die Arbeit zugleich zu einem Quellenwerk machen, das auch die berufsständische Geschichte der benachbarten Heilberufe zu erhellen vermag. Kurzum: Ein zeitgeschichtlich bedeutsames Werk.

Holger Goetzendorff Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung, Entstehungs-geschichte der Apothekerkammer Nordrhein (1945-1953), aus der Reihe Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie,

Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 1992, 519 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Tabellen, kartoniert.


Pharm. Ztg. 138 (1993) 404

Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung

Die unter der Leitung von Professor Fritz Krafft am Institut für Geschichte der Pharmazie in Marburg entstandene Arbeit von Holger Goetzendorff: »Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung. Entstehungsgeschichte der Apotheker-kammer Nordrhein (1945 bis 1953)« zeichnet den Weg der Apothekerschaft zur Selbstverwaltung in seinen Einzelschritten nach.

Die Arbeit konzentriert sich auf die historisch-faktische Rekonstruktion der Ereignisse nach 1945. Zentraler Ausgangspunkt ist die Entstehungsgeschichte der Apothekerkammer Nordrhein auf dem Weg von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung im Zeitraum nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bis zum lnkrafttreten des ersten nordrhein-westfälischen Heilberufsgesetzes im Jahr 1952. Sozusagen aus dem Nichts mußte in Nordrhein eine Apothekerkammer aufgebaut werden, nachdem die regionale Vertretung der Reichsapothekerkammer, die Bezirksapothekerkammer Rheinland, nicht mehr existierte. Erschwerend kam hinzu, daß weder die alten Räumlichkeiten noch die Akten aus der Zeit vor Kriegsende zur Verfügung standen.

ln den ersten Nachkriegsjahren war die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln von übergeordneter Bedeutung. Die Besatzungsmächte waren bei der Verteilung der Arzneistoffe auf die Zusammenarbeit mit den verbliebe-nen Strukturen des Gesundheitsapparates angewiesen. Die Britischen Militärbehörden unterstützten die Bildung von Kammern, da ihnen im Gegensatz zu den amerikanischen Verbündeten diese Vereinigungen aus dem eigenen Land bekannt waren. ln der Britischen Besatzungszone kam es dementsprechend auch nicht zur Aufhebung des Status der Kammern als Körperschaft des öffentlichen Rechts und der Einführung der unbeschränkten Niederlassungsfreiheit.

Organisatorische Fragen der Selbstverwaltung rückten erst nach der Auf-hebung der Bewirtschaftung in den Vordergrund. Einen vorläufigen Abschluß erreichte die Organisation der neu geschaffenen Selbstverwaltungsorgane erst mit der Verankerung der Aufgaben und Pflichten in den durch die von den Länderparlamenten erlassenen Heilberufsgesetzen.

Regionale und überregionale Standesorganisationen

So untersucht Goetzendorff, selbst langjähriger Mitarbeiter der Apotheker-kammer Nordrhein, die Entstehungsgeschichte der Apothekerkammer Nordrhein im Sinne einer organisationsimmanenten Rekonstruktion der Ereignisse schwerpunktmäßig mit dem Bezug auf die vorhandenen

Primärquellen. Dabei reduziert sich die historische Aufarbeitung nicht auf die Betrachtung der Kammergeschichte, ihrer Organisationsstruktur und Auf-gaben, sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers darüber hinaus auf die Einbettung und Beziehung der Apothekerkammer Nordrhein zu lokalen, regionalen und überregionalen Standesvertretungen wie die Anfänge der Apothekervereine, der Tarifgemeinschaften, überregionale Zusammen-schlüsse und die Entstehung der ABDA beziehungsweise ihren Vorläufer, den Apothekerkammerausschuß der Britischen und Amerikanischen Zone.

Sammlung von Dokumenten

Ergänzt wird die Arbeit durch die Veröffentlichung von authentischem, zeitgenössischem Material, indem Sitzungsprotokolle des Kammerbeirats und -vorstands aus den Jahren 1945 bis 1953 chronologisch aufgearbeitet und zahlreiche Dokumente zum Teil erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. So entsteht ein geschlossenes Bild der Kammertätigkeit in den ersten Nachkriegsjahren. Der Aufbau der Selbstverwaltung konnte nicht autonom erfolgen. Weder die Mitglieder noch ihre Vertreter waren in ihren Entscheidungen frei und unabhängig, da der Status der Kammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts Einschränkungen durch den Staat mit sich brachte, die in der Geschichte der Kammern immer wieder von großer Bedeutung waren und sind. Drei Beispiele zeigen Versuche dieser Einflußnahme auf: 1947 erfolgte die Absetzung von Johannes Wangemann, Kammerpräsident der Apothekerkammer Niedersachsen, weil dieser sich weigerte, die Landesregierung bei der beabsichtigten Kommunalisierung der Apotheken zu unterstützen.

lm Zeitraum von 1947 bis 1951 versuchte der Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen gegen den erklärten Widerstand der beiden Provinzialapothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe diese zu einer Landesapothekerkammer zusammenzuschließen. Als letztes Beispiel sei auf die Beratungen des Heilberufsgesetzes von 1989 in Nordrhein-Westfalen verwiesen. Damals strebte die Landesregierung an, den Heilberufskammern die Wahrung der beru?ichen Belange ihrer Mitglieder zu entziehen. lm Rückblick zeigt sich, daß diese Versuche des Staates, in die Selbstver-waltung der Heilberufe einzugreifen, in den oben angeführten Fällen keinen anhaltenden Erfolg zeigten. Der Grund hierfür lag im geschlossenen Auftreten der Berufsstände, so daß der Staat letztendlich einer standespolitischen Selbstverwaltung zustimmte, deren gesetzliche Grundlagen er in den Kammergesetzen festgelegt hatte.

Zentrales Archiv fehlt

Die besondere Bedeutung der Arbeit für zukünftige Untersuchungen der Standesorganisationen der Apotheker ergibt sich aus der chronologischen Darstellung der Inhalte aller relevanten Sitzungen sowie durch einen doku-mentarischen Anhang. Erstmals werden hier Satzungen, Wahl- und Geschäftsordnungen sowie Gesetze und Verordnungen einer interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht. In diesem Zusammenhang ist auch das Fehlen eines zentralen Archivs deutlich geworden.

Viele Zeitdokumente sind im Laufe der Jahre aufgrund mangelnden Inter-esses oder in Unkenntnis ihrer Bedeutung verlorengegangen. Mit Hilfe zahlreicher Zeitzeugen, die ihre Unterlagen zur Verfügung stellten und in persönlichen Gesprächen die Entwicklungen der Jahre zwischen 1945 bis 1953 erläuterten und kommentierten, konnte der Autor ein umfangreiches Privatarchiv aufbauen. Die Arbeit wird die Diskussion um die Notwendigkeit und Legitimation der Apothekerkammern in mancher Hinsicht verändern. Kritikern wie Befürwortern der Standesvertretungen eröffnen sich durch den Einblick in die historischen Entwicklungen Zusammenhänge, die zu einer Versachlichung beitragen und neue Perspektiven eröffnen.

Von der Selbsthilfe zur Selbstverwaltung. Entstehungsgeschichte der Apo-thekerkammer Nordrhein (1945-1953). Von Holger Goetzendorff. Vll, 519 S., 34 Illustrationen, Wissenschaftliche Verlagsges. Stuttgart 1992 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie) ISBN 3-8047-1255-X